Manche Wanderungen sind wie eine Diva: Alles muss passen, sonst passt es nicht. Es darf nicht zu heiss und nicht zu kalt sein, und auf keinen Fall Schnee liegen. Dieser Marsch indes ist ein bodenständiger Allrounder. Kurz, aber oho. Inklusive: Der Blick auf die Churfirsten, die gruselige Erinnerung an ein graues Stück Darm, Canyon-Feeling und eine Frage, die seit Jahren unbeantwortet bleibt.
An schönen Tagen gleicht der Bahnhof Nesslau im Toggenburg einem Wespennest. Heute ist so ein Tag: Mindestens vier Senioren-Wandergruppen warten auf das Postauto Richtung Wildhaus und unterhalten sich dabei lauter als eine Horde Kinder auf Schulreise. Meine Hündin Cocca und ich bahnen uns mehr oder weniger elegant einen Weg aus der Menge. Wir wollen nicht aufs Postauto, nicht auf den Chäserrugg, nicht auf den Iltios oder die Sellamatt, die Wandermagnete hier in der Gegend.
Wir haben etwas vor, das viel bescheidener ist, von einer zauberhaften Schönheit und, verglichen mit den Hotspots, angenehm still. Uns zieht es einmal mehr Richtung Thur.
Achtung, hier wird ein Geständnis fällig: Was wir vorhaben, ist gar keine Wanderung. Eher ein genussvoller Spaziergang. Halt, liebe Wandercracks, nicht weglesen: Man kann diesen Spaziergang zur Wanderung ausbauen.
Erst geht es ein Stück der Hauptstrasse entlang, vorbei an der Käserei mit der Kuh auf dem Vorplatz. In der Kurve mit dem Schild “Tierklinik” zweigen wir rechts ab. Der Blick auf die Klinik ist zugleich Gedenkminute.
(Obacht, es folgt ein Exkurs. Zartbesaitete überspringen diese Passage besser.) Hier haben meine Hündin und ich vor zwei Jahren dramatische Stunden erlebt. Es war – natürlich – an einem Sonntag, als mich mein Tierarzt notfallmässig in die Tierklinik nach Nesslau schickte, mit der sedierten und, wie mir schien, halbtoten Cocca im Kofferraum. Was der Ultraschall und das Röntgenbild zeigten, liess allerdings die Tierärztin der Klinik ratlos zurück, der Chef musste her. Erwähnte ich schon, dass Sonntag war und strahlend schönes Oktoberwetter?
Der Chef kam im Freizeithemd und betrachtete mit zerfurchter Miene erst die Hündin, dann das Ultraschallbild. Auch er wusste nicht genau, was mit meinem Labimix los war; nur, dass es eilte. “Ich schneide sie jetzt auf”, rief er und hastete voran in den OP. Und dann blickten wir zu viert – Chef, Tierärztin, Assistentin und ich – auf ein graues Stück Darm.
“Der ist tot”, kommentierte der Chef und schnitt die wabbelige Masse heraus. (Kein schöner Anblick an einem Sonntagmittag, das kann ich sagen.) “Drei Stunden später, und Ihr Hund wäre auch tot gewesen”, fügte er mit einem Seitenblick auf mich an.
Eine komplizierte Näherei begann. “Normalerweise näht man nie Dickdarm auf Dünndarm; die Chance, dass es hält, stehen bei 50 Prozent”: Was ich da hörte, klang nicht gerade beruhigend. Auf die Näherei folgte eine Woche Aufenthalt in der Klinik. Danach: monatelange Schonkost. Ich dachte bald ernsthaft daran, mich zur Hundediätköchin umschulen zu lassen.
Inzwischen ist alles wieder in Butter, der Gewichtsverlust von fünf Kilogramm (ein Fünftel des Körpergewichts notabene) längst aufgeholt plus zwei Ehrenkilos zusätzlich, und wenn wir in Nesslau sind und die Zeit reicht, schaue ich mit Cocca schnell in der Klinik vorbei und parliere mit dem Chef. Während er sich über die gut genährte und gesunde Hündin freut (“Wüsset Sie, das hett auch chöne id Hose go!”), schmeisst sich die ehemalige Patientin ihrem Lebensretter vor die Füsse und stellt sich vorsichtshalber tot.
(Ende Exkurs)
Diesmal lassen wir die Tierklinik buchstäblich links liegen und überqueren die Brücke Richtung Thur. Cocca stürzt sich sofort ins Wasser und bellt erst wütend alle Steine und Hölzer an, die sie nicht aus eigener Kraft herausholen kann; danach ihren eigenen Schatten. (Das liebste Tier der Welt hat einen eher bescheidenen IQ.)
Die Wanderer vor uns haben ihre Naturkunst hinterlassen – Steintürme. Im Hintergrund die Kirchturmspitze von Nesslau.
Hier beginnt unser Abschnitt des Toggenburger Thurwegs. Die ganze Strecke führt von Wil nach Wildhaus oder umgekehrt, und die wahren Cracks verstehen unter Thurweg genau diese dreitägige Tour. Aber Cocca und ich zählen zu den unwahren Cracks, wir begnügen uns in der Regel mit dem Märschli (Marsch klingt bereits überheblich) von Nesslau bis Krummenau. Man könnte aber problemlos anhängen bis Wattwil. Oder dann in Stein beginnen.
Das Schöne an diesem Abschnitt: Er ist in jeder Jahreszeit die richtige Wahl. Im Winter – egal wie hoch der Schnee liegt – sind die Wege gepfadet, und man wähnt sich in einem Wintersportort. Nur, dass man kaum Leuten begegnet. Hübsch sind die Schnee- und Eisformation an und in der Thur.
Im Sommer gönnt man sich ein Thur- oder Sonnenbad. Und im Herbstlicht – bis weit in den November hinein – scheinen die Churfirsten zum Greifen nah.
Über den Frühling kann ich nichts berichten, diese Erfahrungswerte stehen noch aus.
Ein weiteres Plus: Der Weg hat keine Steigungen. Er ist paradiesisch für gemütliche Wandervögel, die auch schweisslos glücklich werden.
Schon im ersten Abschnitt, am Dorfrand von Nesslau, erblickt man die Inselikapelle. Sie steht mitten in der Thur und gehört dem Johanneum, dem – Zitat – “Lebensraum für Menschen mit Behinderungen”. Wer sie betritt, sieht sich der Mutter Gottes gegenüber. Auf der anderen Seite des Inselis brätelt eine Kindergruppe Würste.
Wir gehen zurück an den linken Uferweg. Cocca rennt die ganze Strecke im Wasser und absolviert dabei doppelt so viele Kilometer wie ich. Bei der Thurschleife gehts übers freie Feld, vorbei an der Eisenbahnbrücke, und dann marschieren wir wieder auf dem Uferweg.
Zu meiner Erleichterung – danke, lieber Bauer – sind die Kühe diesmal auf einer anderen Weide, und wir passieren das Drehkreuz ohne Schnaubgeräusche im Genick. (Wenn Kühe einen schwarzen Hund sehen, sehen sie einen gefährlichen Feind. Dass der Hund viel mehr Schiss hat als sie, können sie ja nicht ahnen. Jemand müsste hier mal Aufklärungsarbeit leisten.)
Je näher wir Krummenau kommen, desto wilder gebärdet sich die Thur. Plötzlich spielt sie Amerika und wir befinden uns in einem Canyon. Das Rauschen des Wassers würde selbst die Senioren übertönen. Da die Senioren vermutlich gerade auf dem Iltios Chäshörnli und Apfelmus verzehren, bleibt die Verifizierung aus.
Nachher, im Wald, schauen wir steil hinunter auf den Fluss, durch die Blätter hindurch. Wäre da kein Wanderweg, man wähnte sich in einer Wildnis. Cocca absolviert ein Intensivtraining, indem sie ständig zur Thur und wieder zum Weg rennt.
Ein paar Meter durch den Wald, dann den Schienen entlang, und schon stehen wir vor dem Campingplatz in Krummenau. (Was ich mich seit Jahren immer wieder frage: Wer campiert eigentlich in Krummenau? Und wozu?)
Die Wandercracks würden jetzt nach Wil oder wenigstens nach Wattwil marschieren, wir schlendern in der Herbstsonne zur Bushaltestelle, und ich denke einmal mehr: Dieser Weg hier hat nichts, aber auch gar nichts von einer Diva.
Thurweg, Abschnitt von Nesslau nach Krummenau
Anfahrt: Via Wil-Wattwil mit Zug oder Postauto (alternierend im Halbstundentakt) nach Nesslau oder von Buchs via Postauto. Abmarsch ab Bahnhof Nesslau (Wanderwegweiser).
Weg: maximaler Wandergenuss für Minimalisten.
Dauer: Wer sehr gemütlich unterwegs ist, bringt es auf eine gute Stunde.
Höhenmeter: Haha!
Rast: Brätelstellen, Picknickplätze (zum Beispiel bei der Inselkapelle), Bänke. In Krummenau zum Beispiel das Restaurant “Sonne” mit prächtigem Blumenschmuck und empfehlenswerter Küche.
Kindertauglich: ja.
Hundetauglich: erst recht.

Im Gegensatz zum eigenen Schatten wird der Bläss aus Holz nicht angebellt.
Ein interessanter Bericht, danke schön.
Tolle Bilder, gluschtige Wanderung. Ich werde das bald mal ausprobieren. Auch sehr gut geschrieben, es ist wie wenn man dabei wäre.
Schön, ist Cocca wieder wohlauf. Toller Beitrag, liebe Franziska.
Danke euch allen! Und ja, Cocca geht es wieder gut. Sie darf nur nichts Hartes fressen, es gelingt ihr aber doch immer wieder. Klauen kann sie trotz geringem IQ hervorragend.